· 

#23 Open House

Sie wurden von den Nazis aus Deutschland verjagt, ihre Bücher verboten – trotzdem arbeitete das Ehepaar Lisa Tetzner und Kurt Kläber bis zum Tod an Jugendbüchern, die heute zu den grossen Klassikern zählen. Nebenbei führten sie ein offenes Künstlerhaus – die Casa Pantrovà im Tessin.

 

Und dank Sonart durften wir für eine Woche ebendort hin – in die Casa Pantrovà! Wir wechselten uns ab und profitierten vom grössten Arbeitszimmer, das wir je gesehen hatten, mit 4000 Büchern und einem Flügel. Genossen das Herumstreunen im bilderbuchhübschen Dorf und in den Kastanienwäldern. Und gingen jeden Tag dank einem Geheimtipp um 15.45h auf den Dorfspielplatz, weil der sich dann pünktlich aufgrund des eintreffenden Schulbusses füllte.

 

Und natürlich versuchte ich auch, möglichst viel über Tetzner und Kläber zu erfahren. In ihrem Haus gingen offenbar Hermann Hesse, Bertold Brecht und Marta Argerich aus und ein, um nur einige wenige zu nennen. Das Internet gab aber nicht so viel her. Durch Zufall stiess ich in einem Schrank auf einen Teil des Archivs, und fand in Zeitungsartikeln und Büchern auf Spuren einer beeindruckenden Lebensgeschichte, geprägt vom 2. Weltkrieg. Und eine innige Liebesgeschichte, die mich sehr berührt hat.

Aussicht aus dem Balkon im Büro // Aussicht aus dem Zimmer auf das Dorf Carona // im Garten der Casa Pantrovà

 

„Aber manchmal, wenn ich so ein wenig wegmüde bin, dann denke ich, vielleicht hat die Mutter doch recht. Dann hätte ich Haus und Herd und statt der vielen fremden Kinder eigene, an deren Betten man sitzt und denen man Märchen erzählt, deren Kleider man näht und deren Leben man bewacht. Das Leben wäre so still begrenzt, und nicht das Auf und Ab einer ungewissen Ferne. Doch nein, was ich will ich denn! Jetzt werde ich in dieses Dorf gehen. (…) Ich werde eine Heimat haben und ein Bett finden, in dem ich schlafe. Ich kann am nächsten Tag wieder weitergehen, und ich weiss wieder, dass ich glücklich bin, denn das Leben strömt in mir. Ich spüre seine Kräfte und bin noch lange nicht müde der Welt.“ (1)

 

Lisa Tetzner (1894 - 1963) war als junge Frau eine bekannte Märchenerzählerin. Obwohl ihr Vater sie lieber verheiratet und unter Dach und Fach gesehen hätte, erlaubte er ihr den Besuch der „Sozialen Frauenschule“ in Berlin. Danach bildete sie sich in Stimmbildung und Sprecherziehung weiter und reiste anschliessend, getrieben von ihrer Mission, allen Kindern Märchen zu bringen, durch ganz Deutschland. Mit 25 lernte sie auf Wanderschaft Kurt Kläber kennen, der sich dem Kommunismus verschrieben hatte und probeweise als Bergwerkskumpel arbeitete. Sie heirateten bald. 

 

Als die Nazis an die Macht kamen, waren sie mit Lisas Arbeit zunächst ganz zufrieden – schliesslich verbreitete sie doch deutsches Volksgut! Mit Kurt aber gar nicht. Er kam in Schutzhaft und musste emigrieren. Lisa folgte ihm über die Tschechoslowakei in die Schweiz. Von dort aus vernahm sie von zwei SS-Hausdurchsuchungen in Berlin, wo ihr gesamtes literarisches Werk beschlagnahmt wurde. Dagegen wehrte sie sich mit einem Brief (10. Juli 1933, erwähnt im Buch von Gisela Bolius):

 

„Ich liebe Deutschland, und ich möchte mich nicht ob solcher Aktionen schämen müssen, eine Deutsche zu sein. Meine Arbeit ist auch kulturell so stark mit Deutschland verbunden, und man kann nicht einen Menschen von offiziellen Stellen aus zu gleicher Zeit ersuchen, sobald es ihm gesundheitlich möglich ist, seine bekannte Märchenerzähltätigkeit in den Kulturzentren des neuen Deutschlands wieder aufzunehmen und mitzuarbeiten und auf der anderen Seite sein Arbeitsmaterial wegschleppen und noch dazu so wahllos unter so sonderbaren Umständen.“ (2)

 

Es nützte nichts. Lisa bekam ihre Bücher nicht zurück – später wurden sie sogar verboten. Und die Schweiz stellte sich bei der Ausstellung einer Arbeitsbewilligung lange quer, weil sie dafür ebendiese beschlagnahmten Bücher hätte vorweisen müssen. Für Kurt gab es aufgrund seiner kommunistischen Vergangenheit, von der er sich immer mehr lossagte, nur eine Aufenthaltsbewilligung. Das Arbeiten wurde ihm verboten. Später wurde auch Lisa die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Und wieder mahlten die Mühlen der Schweiz schön langsam und bürokratisch. Fast wurde ihnen die Aufenthaltsbewilligung entzogen, diese sei nämlich nur „aus Versehen“ erteilt worden. Dank dem solidarischen Einsatz mehrer Schweizer Freundes wurde sie dann doch verlängert. Den Schweizer Pass bekamen Lisa und Kurt erst 1949, nach über zehn Jahren als Staatenlose.

 

Das Ehepaar muss ein hervorragendes Team gewesen sein. Sie mieteten in Carona im Tessin, oberhalb von Lugano, eine Wohnung, schrieben dort beide fleissig, obwohl nur sie arbeiten durfte, und setzten sich auch sozialkaritativ ein. Sie sorgten zum Beispiel dafür, dass Flüchtlingskinder, die von deren Eltern in die Schweiz geschickt wurden, im Dorf ein Zuhause fanden. Auch sonst nahmen sie immer wieder Menschen für eine Weile bei sich auf, selbst wenn ihre finanziellen Verhältnisse alles andere als rosig waren.

 

„Sie waren beide aufgerüttelt worden durch den Krieg, durch den sozialen Gedanken, ein wenig auch durch die Jugendbewegung, künstlerisch durch den Expressionismus. Dies alles hatte sie für immer hinausgewiesen aus der Selbstverständlichkeit der Überlieferung: sie spürten beide, eine wie tiefgehende geistige, politische, gesellschaftliche Umschichtung am Werke sei, und dass es gelte, in dieser Wandlung zu bestehen.“ (…) „Wie viele andere hatten sie ihre alte Heimat verlassen, die Freunde verloren sich in alle Richtungen, die gemeinsamen Bemühungen versiegten. - Was blieb nun?“ (1)

 

Anfang der Fünfzigerjahre sah ihre Lage schon ein wenig besser aus. Beide waren als Autoren erfolgreich. Gemeinsam schrieben sie den Bestseller „Die schwarzen Brüder“, und Lisas „Kinder-Odyssee“, ein neunbändiges Werk, das die Zeit in Deutschland in den 30er und 40er Jahren aus der Sicht von verschiedenen Kindern aus der gleichen Mietkaserne beschreibt, verkaufte sich weltweit. Als „Die rote Zora“ verfilmt wurde – von Kurt als Kurt Held veröffentlicht, weil er offiziell nicht arbeiten durfte – konnten sie sich vom Ertrag davon endlich den Traum vom eigenen Haus in Carona erfüllen. Ein Haus, das von Anfang an nicht nur für sie selber gedacht war. Sie gestalteten es wie ein kleines Hotel mit mehreren auch getrennt nutzbaren Zimmern, Küchen und Bädern, und beherbergten ab 1955 Künstler*innen aus ganz Europa. 

 

„Lisa und Kurt freuten sich auf jeden, den sie erwarteten, und sie waren bestrebt, nach Möglichkeit solche Gäste zusammen einzuladen, von denen sie dachten, dass sie sich etwas zu sagen hätten.“ (…) Immer haben Lisa und Kurt aber auch Menschen miteingeladen, denen sie (ohne mit ihnen befreundet zu sein) einfach eine Freude bereiten wollten. Sei es, weil die Betreffenden einsam waren oder weil sie ein schweres Leben hatten.“ (1)

 

„Sie hatten schwere Zeiten gekannt und waren doch nicht verbittert. Und nun war auch das äussere Leben wieder lichter und leichter geworden, und auch dafür waren sie ganz einfach dankbar.“ (1)

 

Lisa Tetzner entwickelte sich von der Märchenerzählerin zur Jugendbuchautorin mit einer starken sozialpolitischen Stimme. Sie wollte Kindern zeigen, wie die Welt wirklich ist – und sie dabei auch gut unterhalten, ohne moralisch zu werden. 

 

Mich beeindruckt es immer, wenn jemand seine künstlerische Tätigkeit in den Dienst einer höheren Bestimmung stellt, und es obendrein schafft, sie dadurch reicher zu machen. Und besonders eindrücklich ist es natürlich auch, wenn sich jemand, wie das Ehepaar Tetzner-Kläber, auch neben der Kunst für eine Gemeinschaft, für Mitmenschen, für die Umwelt engagiert. Sie führten ein offenes Haus, das für sie selber und auch für viele andere zu einer inspirierenden Zufluchtsstätte wurde. 

 

Genauso habe ich die Zeit in der Casa Pantrovà auch erlebt. Es war eine Art Pause, mitten in der Pandemie. Dafür war und bin ich sehr dankbar. 

 

„Wir haben eine Verantwortung dem Leben gegenüber! Schuldig können wir werden, wenn wir die Kräfte, die in uns liegen, vergeuden und verschleudern, ohne dass sie der Bestimmung, „nützlich“ zu sein, gedient haben. Keiner von uns weiss, welche Aufgabe uns das Leben noch stellt! Deshalb wollen wir Glauben haben und überwinden, was mühsam und schwer!“ (1)

 

 

Forschen im Bürozimmer // weil's so schön ist, gleich noch einmal: Aussicht aus dem Zimmer // Lisa Tetzners Arbeitsplatz in der kleinen Stube

 

 

Quellen: 

(1) Tetzner, Hans Leo: Das Märchen und Lisa Tetzner. Ein Lebensbild. Aarau: Sauerländer, 1966.

(2) Bolius, Gisela: Lisa Letzner. Leben und Werk. Frankfurt am Main: dipa-Verlag, 1997.