· 

#41 Hello, Oak! feat. Annemarie Berlinger-Staub

Annemarie Berlinger-Staub ist seit 2018 Gemeindepräsidentin von Köniz, meinem Wohnort. Sie ist die erste Frau in diesem Amt – und gehört mit einer Handvoll anderer Frauen zu den ganz wenigen Gemeindepräsidentinnen in der Schweiz. Sie sagt: „Köniz ist die Schweiz im Kleinen“. Und meint damit, dass man in der grossen Gemeinde sowohl stadtähnliche Quartiere wie auch ländliche Weiler findet. 

Wir haben über ihren Lieblingsbaum gesprochen, den sie täglich grüsst: „Hello, oak!“ Und über ihre persönliche Geschichte mit sehr unterschiedlichen Stationen – von der Arztgehilfin bis zur Juristin.

 

Ich würde gern mit Ihrem Baum anfangen…

Der Eiche?

 

Genau! Was bedeutet sie ihnen?

Ich bin hier aufgewachsen und wohne seit 1999 wieder im Elternhaus. Deshalb habe ich ganz gut mitbekommen, wie sich Schliern entwickelt hat. Als ich ein Kind war, sah man die Eiche aus dem Küchenfenster in ihrer ganzen Fülle, und nun sehe ich etwa noch das obere Drittel. Aber sie war immer da! Wenn man in Richtung Köniz fährt, dann ist sie das letzte, was man von Schliern sieht. Sie ist ein stattlicher, unglaublich schöner Baum. Ich mag ihre Behäbigkeit. Was auch passiert, ob weltgeschichtliche Ereignisse oder persönliche, sie steht einfach da, und alles zieht an ihr vorbei.

 

Hat das für Sie auch einen beruhigenden Aspekt?

Das hat es auch, ja. Wann immer ich an ihr vorbeikomme, sage ich immer schnell Hallo. Hello, oak! sage ich dann innerlich (lacht).

 

Das klingt ja wie ein perfekter Stücktitel: Hello, oak! Warum denn in englisch?

Ich war mit 20 in den USA für ein Austauschjahr, und später noch einmal ein halbes Jahr in Neuseeland, wo ich für eine Austausch-Organisation gearbeitet habe. Ich lese viel auf englisch und höre englische Podcasts. Leider habe ich viel zu wenig Gelegenheiten, um englisch zu sprechen. Irgendwie hilft mir die Sprache aber, klare Gedanken zu fassen, und deshalb studiere ich manchmal auf englisch an gewissen Dingen herum. Die Distanz hilft wahrscheinlich.

 

Für viele Könizer*innen, die ich befragt habe, ist der Fall klar: Köniz ist ihre Heimat. Sie möchten nicht weg von hier. Ist das für Sie auch so?

Grundsätzlich natürlich schon! Mich fasziniert die Gemeinde extrem. Die unglaubliche Vielfalt, die man hier findet. In Köniz leben Menschen, die ein sehr urbanes Leben führen, und andere, die ganz auf dem Land wohnen. Ganz unterschiedliche Weltanschauungen kommen hier zusammen. Ich schätze es sehr, dass ich im Amt Kontakt mit so vielen verschiedenen Menschen habe, und Einblick in das riesige Spektrum bekomme, auf wieviele Arten man die Welt sehen kann. Das macht Köniz sehr reich. Und gleichzeitig ist es natürlich auch eine Herausforderung, besonders auf der politischen Ebene. 

 

Damit sind wir bereits bei einem hochaktuellen Thema. Wie kann man den Stadt-Land-Graben überwinden – und könnte dabei vielleicht die Kunst eine Rolle übernehmen?

Es braucht Geschichten. Man muss einander zuhören, einander erzählen. Ich glaube, da kann Kunst sehr viel bewirken. Sie kann sichtbar machen: wer wohnt eigentlich auch noch alles da? Wenn man die Geschichte eines Menschen hört, fällt es schwerer, an Vorurteilen festzuhalten. Man beginnt sich davon zu lösen, alle Menschen, die zufällig ein bestimmtes Kriterium gemeinsam haben – zum Beispiel geflüchtete Menschen – im Kopf in die gleiche Schublade zu stecken.

 

Am besten widmen wir uns nun also Ihrer Geschichte! Sie ist sehr interessant. Sie haben nach ihrer Erstausbildung eine Erwachsenenmatur gemacht, und dann quasi gleichzeitig eine Familie gegründet und ein Jura-Studium absolviert.

Damals, im Moment, hat es sich ganz logisch angefühlt, es so zu machen. Ich habe Arztgehilfin gelernt. Damals war das eine Sackgassenausbildung, es war nur eine zweieinhalbjährige Lehre, und es war nicht möglich, sich weiterzubilden. Ich hätte eine neue Lehre absolvieren müssen. Man hat mir gesagt: Ihre Noten im Zeugnis sind zwar sehr gut, aber es ist nicht der richtige Abschluss! Das hat mich richtig wütend gemacht – dass nur der Abschluss zählt, und nicht die Leistung. Also dachte ich, ich mache grad eine Matur. Ich habe mich dann für alle Fächer extrem interessiert, es hat mir richtig den Ärmel reingezogen. Und als ich Als ich dann einmal die Rechtsanwältin Sibyl Matter an einem Anlass über ihren Beruf reden hörte, realisierte ich, dass das gar nicht so weit weg war für mich, und dass ich vielleicht auch noch studieren könnte.

 

Hatte das auch damit zu tun, dass Sibyl Matter eine Frau ist?

Ja, ganz sicher! Sie gab mir das Gefühl: das kann ich auch! Deshalb ist mir das heute noch ein Anliegen. Hinzustehen und zu sagen, dass eine Frau das kann. Natürlich kann sie das!

 

Sie haben mit 30 zu studieren begonnen. Waren die Kinder schon von Anfang an mit dabei?

Ich habe im Oktober zu studieren begonnen, und das erste Kind ist dann im Mai auf die Welt gekommen.

 

Zwei riesige Meilensteine… wie anstrengend war das?

Es war für mich eine extrem gute Ergänzung. Fürs Studium brauchte ich meinen Kopf, es war eine intellektuelle Sache. Die andere Welt – die Familienwelt - ist ganz anders. Es war sicher sehr anstrengend, aber es hat für mich immer gut gepasst.

 

Gab es auch negative Stimmen in Ihrem Umfeld?

Es gab einfach die typischen Spielplatzgespräche – man sagte mir: „ich könnte das nie!“ Was natürlich eigentlich heisst, ich möchte das nie, und ich finde es gar nicht so gut, was du machst. Es war nicht immer reibungslos. Es war nicht einfach nur ein Spaziergang. Aber zum Glück sind mein Mann und ich ein gutes Team. Ich habe mich ihm nie erklären müssen, mich nie rechtfertigen müssen, dass ich noch studiere. Das gibt eine extreme Unterstützung.

 

Wie war es denn für ihn – wie waren die Reaktionen ihm gegenüber?

Sie waren ganz anders. Wenn er abends die Kinder aus der Kita geholt hat, stieg er abends um sechs mit drei Kindern und einem Hund in den vollen 10er-Bus. Da haben immer alle geholfen (lacht). Vielleicht weinte noch eines… er hat einfach viel mehr Verständnis erlebt. Wenn ich um diese Zeit mit weinenden Kindern in den Bus stieg, lautete der Grundtenor, das ist eine Zumutung, um diese Zeit. Solches gab und gibt es schon. Es ist nicht immer lustig. 

 

Hatte der Entscheid, in die Politik einzusteigen, auch mit solchen Fragestellungen zu tun – dass Sie ein Vorbild sein oder an Stereotypen rütteln möchten?

Ja, schon. Mit dem ersten Kind habe ich deutlich gemerkt, was für eine Idee die Gesellschaft von einer Familie hat. Wie eine Frau funktionieren soll. Wenn ich jetzt zurückschaue, denke ich, ich hätte es auch früher merken können (lacht), aber ich habe erst mit dem Mutterwerden gemerkt, dass für mich und meinen Mann unterschiedliche Regeln gelten. Als mich dann jemand gefragt hat, ob ich mich auf eine Liste fürs Parlament setzen lassen möchte, habe ich zugesagt, wurde im ersten Anlauf gewählt und war danach zwölf Jahre im Parlament. Das Interessante an der Gemeindepolitik ist, dass man in ganz viele Gebiete Einblick bekommt, in die man sonst keinen Zugang hat. Es ist wirklich querbeet – Themen, die einen sowieso interessieren, und auch solche, von denen man das noch nicht wusste. Wasserleitungen zum Beispiel. So wuchs der enge Bezug zu Köniz für mich immer mehr.

 

Wir haben vom Zuhören gesprochen, vom Geschichten erzählen. Kommt dieses verbindende Element in Ihrem politischen Alltag häufig vor? 

Es ist mein Grundanliegen, und läuft deshalb immer mit. Selbst wenn in meinem Alltag, der viel mit Organisation, Verwaltung, mit Geschäften zu tun hat, leider manchmal kaum mehr Zeit dafür bleibt. Ich habe deshalb das Bürgergespräch als Gefäss installiert, damit Menschen mit ihren Anliegen direkt zu mir kommen können und eine halbe Stunde mit mir sprechen können. Das wird sehr rege genutzt. Natürlich kann ich leider nicht zaubern, aber das verstehen die allermeisten – dass ich als Gemeindepräsidentin nicht einfach etwas befehlen kann, weil ich an rechtliche Vorschriften gebunden bin, oder man an übergeordneten Stellen nicht weiter kommt. Aber ich kann zuhören, nachfragen, vielleicht auch einmal einen Rat geben, oder versprechen, dass ich jemanden zur Überprüfung vorbeischicke, wenn es zum Beispiel um einen Verkehrsspiegel in einem Quartier geht. Ganz häufig reicht es aber schon, dass jemand überhaupt zuhört und sich Zeit nimmt.