Tom Gsteiger lehrt Jazzgeschichte und schätzt das aktuelle Jazzschaffen mittels Album- und Konzertkritiken ein. Was er sich wohl anhört, wenn es einmal kein Jazz sein soll? Das habe ich mich schon lange gefragt. Im folgenden Text verrät er einige seiner Lieblingsstücke, und verrät nebenbei, was er mit den Spatzen macht, die von seinem Dach pfeifen (sie liebevoll füttern nämlich).
Die Vögel im Video stammen von einer Birdwatching Livecam in Ohio (USA). Ein Mann namens Steve installierte im Oktober 2020 eine Webcam bei den Birdfeedern in seinem Garten – zur Freude von konstant mehreren Hundert Zuschauer*innen... Er hat mir erlaubt, einen zufälligen Ausschnitt, aufgenommen an einem Samstag Nachmittag, zu verwenden. Und er freut sich übrigens über weitere solche Schnipsel. Musicians everywhere: nur zu also!
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Prägende Hörerlebnisse eines Jazzliebhabers ausserhalb seiner „Komfortzone“
von Tom Gsteiger
Der Jazz nimmt in meinem Leben derart viel Platz ein, dass andere Musik nur sehr selten zum Zug kommt. Dabei handelt es sich häufig ebenfalls um Musik, die wir der ausserordentlichen und einzigartigen Kreativität der afro-amerikanischen „community“ verdanken. An erster Stelle ist hier der Blues zu nennen, ohne den es ja keinen Jazz gäbe. Absoluter Blues-Favorit: Howlin’ Wolf (Chester Arthur Burnett), dessen tiefe, kratzbürstige und „gefährliche“ Stimme wie eine Mischung aus Whiskey und starkem Tobak klingt. Was mich von den zahlreichen Blues-Ethnologen unterscheidet: Die Texte sind für mich nicht besonders wichtig, ich achte auf den Ausdruck des Gesangs und auf den Groove der Band. Informationen über das Leben dieser starken Charaktere sammle ich dagegen mit Leidenschaft (z.B. wie Leadbelly begnadigt wurde, nachdem er einen Song für den Gouverneur geschrieben hatte).
Den Blues hab ich lange nach dem Jazz entdeckt, aber nie wirklich gründlich erforscht. Trotzdem glaub ich, dass die Auseinandersetzung mit dem Blues meine Sicht auf den Jazz verändert hat: Ich achte weniger auf Vituosität, mehr auf den Ausdruck, den Sound. So habe ich zum Beispiel Gene Ammons für mich entdeckt, dessen Tenorsax-Sound für mich das Nonplusultra in Sachen Tenorsax-Sound darstellt (na ja, der Sound von Eddie „Lockjaw“ Davis ist auch sehr geil und der von Paul Gonsalves sowieso, von Ben Webster gar nicht zu reden …). Das Interesse an Prä-Bebop-Jazz hat zugenommen. Aber jetzt sind wir wieder beim Jazz gelandet und um den soll es ja gerade nicht gehen …
Vom Blues gibts dann viele Abzweigungen zu R’n’B, Soul, Funk … Stevie Wonder und Marvin Gaye: Die Motown-Genies. The Meters: New Orleans Funk at its best. … Wo soll man Jimmy Scott einordnen? Die Lebensgeschichte von Jimmy Scott ist derart traurig, dass man sich nur wundern kann, wie viel Schönheit er dieser Welt geschenkt hat (durchtränkt von Melancholie).
Grosse Faszination ausserhalb der „black community“ übt auf mich Van Morrison aus: Seine Art des Singens halte ich für eine äusserst facettenreiche Art des Improvisierens - und auf seinem Meisterwerk „Astral Weeks“ wirken ja mit Richard Davis und Connie Kay zwei legendäre Jazzmusiker mit. Aber auch hier habe ich mich nie vertieft mit den Texten befasst (da les ich viel lieber querbeet „richtige“ Bücher von Robert Walser, John Fante, Thomas Mann, Ta-Nehisi Coates, Zadie Smith, Laurence Sterne usw. sowie Graphic Novels von Harvey Pekar, Art Spiegelman etc.). Ich halte dieses Getue um die „lyrics“ für masslos übertrieben, darum kann ich auch fast gar nix mit dem überschätzten Bob Dylan anfangen (seine Nuschelstimme wirkt auf mich sehr ausdruckslos), über den der grossartige Otis Redding so treffend gesagt haben soll: „Too many words.“
Wenn es um Sängerinnen geht, stehen für mich nicht der Jazz und auch nicht der Blues und seine Verästelungen an erster Stelle: Das Podium wird von Björk, PJ Harvey und Fiona Apple besetzt, wobei die Podiumsplätze wechseln können. Das sind Stimmen, die Gänsehaut auslösen können bei mir. Warum? Darüber hab ich nie nachgedacht, ist halt so! Wenn ich übrigens Musik höre, dann höre ich nur Musik - am liebsten liege ich dabei mit Kopfhörern und geschlossenen Augen auf meinem Bett. Musik ist für mich nie Nebensache, immer Hauptsache - ausser dort, wo man sich gegen akustische Umweltverschmutzung leider nicht wehren kann: am schlimmsten in Restaurants, wo man ja in der Regel mehr Zeit verbringt als in Liften …
Selbstverständlich (selbstverständlich?) wurde ich im Gymnasium in erster Linie mit eurozentrischer Musik traktiert, bei der es v.a. darum geht, denn genialen Willen des Komponisten zu ehren. So richtig verleidet ist mir die klassische Musik deswegen nicht, aber nach ein paar wenigen Besuchen in Musentempeln, wo diese Musik zelebriert wird, kann ich gut verstehen, warum Keith Jarrett nach einer Tournee als klassischer Pianist eine Depression bekommen hat. Es gibt da trotzdem vier Lieblingswerke, zu denen ich nicht regelmässig, aber alle paar Schaltjahre zurückkehre, nämlich die Goldberg-Variationen von Gang-Pascha JSB (in der Version von Glenn Gould), die Winterreise von Syphillis-Schubert (mit Fischer-Dieskau), die Oper Wozzeck von Alban „Zwölfton“ Berg (dirigiert von Pierre Boulez) sowie den Sacre du printemps von Wild Igor Strawinski (ebenfalls dirigiert von Boulez).
Die glorreichen Sieben (Reihenfolge ziemlich zufällig, Auswahl vom 29.12.20, nachmittags um viertel vor fünf)
- Howlin’ Wolf: „Smokestack Lightning“ - live 1964 (grossartige Band!)
- Mein absoluter Lieblingssong von Marvin Gaye: „Sparrow“ (ich bin Ornithologe in spe*)
- „The Folks Who Live on the Hill“, gesungen von Jimmy Scott (da kommen mir die Tränen)
- „Astral Weeks“, Van Morrison
- „I Know“, Fiona Apple
- Schubert: Die Winterreise mit Fischer-Dieskau (der Sinatra der Klassik)
- The Meters: „Africa“
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*Tom, was bedeutet das, Ornithologe in spe?
Seit Jahren sammle ich Bücher über Vögel (wissenschaftliche, taxonomische, literarische …). Und habe dabei u.a. erfahren, dass ein berühmter Ornithologe tatsächlich Bird heisst. Und Bird ist ja auch der Übernahme von Charlie Parker. Zur Frage „Welcher Vogel könnte Parker sein?“ hat übrigens Ralph Ellison einen wunderbaren Essay geschrieben. Diese Sammlerei hat mir gezeigt, dass Ornithologie ein extrem komplexes Thema ist, und ich habe da erst an der Oberfläche gekratzt.
Vogelstimmen identifizieren? Ach du meine Güte! Dann doch lieber Jazz-Saxophonisten voneinander unterscheiden. In ornithologischen Bereich sammle ich sozusagen fürs Alter: Eventuell werde ich ja als Pensionär doch noch ein guter Hobby-Ornithologe. Selbstverständlich gibt es da auch mehrere Links zur Musik:
- das oben genannte Stück „Sparrow“ von Marvin Gaye
- Messiaen und seine tiefschürfende Integration von Vogelstimmen in rauschhafte Musik
- Albert Mangelsdorffs und Eric Dolphys Interesse für den Gesang der Vögel
- mit Andy Scherrer und Bill Carrothers habe ich auf privater Basis eine CD mit dem Titel „Ornithology“ produziert
- Duke Ellingtons „Bluebird of Delhi (Mynah)“
- die grossartige Komponistin Maria Schneider hat dem Thema Vogelmigration das Stück „Cerulean Skies“ gewidmet, in dem sie auch Bezüge zur Klimakrise macht, die ja vielen Vögeln arg zusetzt (der Schriftsteller Jonathan Franzen, wie Messiaen, Mangelsdorff und Maria Schneider ein leidenschaftlicher Vogelbeobachter, hat dazu aufwühlende Texte verfasst) …
Meine Lieblingsvögel sind übrigens die Spatzen, die ich während der Outdoor-Saison am liebsten dann füttere, während ich mich selbst mit Kaffee und Kuchen versorge. Und im Widerspruch zur Hausordnung füttere ich auf meinem Balkon Vögel, wobei auch hier die häufigsten Besucher Spatzen sind, gefolgt von Blaumeisen.
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