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Simone Keller: Einfach mal anfangen

Simone Keller ist als Pianistin, Vermittlerin, Künstlerin immer auf der Suche nach Möglichkeiten, aktiv zur Gesellschaft beizutragen. Sie lanciert unterschiedlichste Projekte, zum Beispiel für Menschen mit Fluchthintergrund und für gehörlose Menschen, oder sie sucht sich aktiv Musik von Komponist*innen aus, denen die Stimme im Kanon noch gefehlt hatte. Alle ihre Projekte verfolgt sie mit höchstem künstlerischen Anspruch. Sie ist für mich ein riesiges Vorbild und ich habe mich enorm gefreut, dass sie dieses Jahr sowohl den Schweizer Musikpreis als auch den Thurgauer Kulturpreis bekommen hat. Kürzlich haben wir miteinander gesprochen – ein Austausch, der mich inspiriert und angetrieben hat.

 

Simone, was würde mit dir passieren, wenn du einfach „nur“ Pianistin wärst, und nur üben und Konzerte spielen würdest, ohne all deine anderen Projekte?

Das wäre so leer für mich. Ich kann nicht einfach ausblenden, was in der Welt läuft. Klar bin ich Musikerin und ich verstehe auch die, die sagen, sie machen einfach nur Musik – ich mache niemandem einen Vorwurf, der sich nicht gesellschaftlich engagiert. Für mich würde es sich aber falsch anfühlen. Dann wäre ich wie eine Pflanze, die kein Wasser bekommt. Meine Musik wäre wahrscheinlich dann auch ganz klein.

 

Seit wann hast du diesen Wunsch, dich zu engagieren?

Gute Frage … für mich ist es einfach selbstverständlich. Ich war ein sehr schüchternes Kind, und habe häufig nur durch die Musik kommuniziert. Ich habe immer versucht zuzuhören und zuzuschauen, was läuft, und habe dadurch vieles mitbekommen. Das war vielleicht die Ausgangslage. Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass ich auch etwas machen oder beitragen kann, selbst wenn ich schüchtern bin. Es ist einfach ein Prozess, das merke ich, wenn ich mit jungen Studierenden zu tun habe. Plötzlich merkt man, man könnte hier oder dort etwas beitragen, selbst wenn es etwas Kleines ist. Es zählt alles, was man zu geben hat. Manchmal denkt man, ich mache ja gar nichts. Aber ich glaube, auch die kleinen Sachen sind sehr wichtig. 

 

Ich führe manchmal Diskussionen darüber, ob Musik politisch sei … für mich eindeutig ja.

Ja klar (lacht).

 

Als Beispiel dafür möchte ich dein Kukuruz Quartett nennen. Ihr spielt Musik des schwarzen Komponisten Julius Eastman, um sie bekannter zu machen. Es ist Musik, die man einfach so geniessen kann – aber durch die bewusste Wahl bekommt euer Spielen eine zusätzliche Ebene.

Natürlich. Ich sage immer, man kann sich nicht nicht verhalten. Wenn man sich nicht verhält, ist es auch ein Statement. Wenn man sagt, ich bin neutral, ich bin nicht politisch, ist das auch eine Aussage. Für mich gilt deshalb auch – alles, was wir machen oder nicht machen ist eine politische Aussage. Als Teil dieser Gesellschaft sind wir alle mitverantwortlich.

 

Das Missverständnis besteht meiner Meinung nach darin, dass dieses „Politische“ sich auf einem breiten Spektrum bewegt – dass man auf einer Bühne steht und sich konkret gegen einen Krieg äussert, ist ja nur eine von unzähligen Möglichkeiten. Es kann auch sein, dass man einfach heimlich spendet, oder dass man sich bewusst überlegt, zum Beispiel als Jazzband, dass man eine Frau als Instrumentalistin anfragt, oder eben wie in eurem Fall, wessen Musik man spielt. Das Bewusstsein und die Sensibilität für dieses riesige Spektrum müsste sich noch viel mehr entwickeln. Wie ist das in deiner Szene – ist dies für deine Kolleg:innen selbstverständlich?

Nein, gar nicht. Im ganz klassischen Kontext gibt es dieses Bewusstsein kaum, dort ist es komplett exotisch, was ich mache. Seit ich auch in einem aktivistischen Umfeld bin, begegne ich Leuten aus der ganzen Welt, die sich voll und ganz einsetzen. Dort gibt es diese Grundannahme: Wir sind alle verantwortlich, jede und jeder von uns. Aber in der Musikszene in der Schweiz … Es gibt sicher Ausnahmen, aber es erst wenige. Aber es werden immer mehr. Man muss sich einfach zusammenschliessen und sich gegenseitig unterstützen, damit man merkt, dass man nicht allein ist.

 

Du hast letztes Jahr dafür gesorgt, dass ein afghanischer Junge in die Schweiz kommen konnte. Wie ist dies zustanden gekommen?

Er hatte mich einfach angeschrieben und mir seine Videos geschickt – ein sehr begabter Junge, der im falschen Land lebte und professionell Musik machen möchte. Zuerst habe ich ihm Adressen von Musikprofessor*innen gegeben, von denen ich dachte, sie hätten Einfluss. Eine Woche später hat er mir geschrieben, es habe niemand auch nur geantwortet. Da habe ich gemerkt, dass ich etwas machen muss, selbst wenn ich ihn nicht kenne. Er ist einfach eine Ausnahmeerscheinung – dass er überhaupt so weit kommen konnte mit dem Klavier. Er stammt aus einem gebildeten Elternhaus. Wenn nicht einmal er es schafft, in unser System zu kommen, dann stimmt wirklich etwas nicht. Es war für mich wie ein Präzedenzfall. Wenigstens für ihn muss es doch zu schaffen sein! Zum Glück ist es dann auch gut herausgekommen, aber es war ein Riesenglück und mit gigantischem Aufwand verbunden. Mir war einfach klar, dass ich nicht aufhören konnte – er hatte seine ganze Hoffnung in mich gesteckt, hatte tausende Leute angeschrieben und niemand hatte sich bis zum Ende um ihn gekümmert. Natürlich kommt sofort der Gedanke auf, man müsste für so viele andere das Gleiche tun.

 

Nun ist er in der Schweiz und befasst sich mit Musik?

Genau. Er studiert noch nicht, er ist ja auch erst 14, aber er wird von einem Hochschulprofessor unterrichtet und ist gerade in die Talentförderklasse aufgenommen worden. Das Schwierige war, dass er rein juristisch nicht als Geflüchteter in die Schweiz kam - in diesem Fall hätte er als unbegleiteter Minderjähriger in ein Bundesasylzentrum gehen müssen und hätte nicht Klavier spielen dürfen. Deshalb hatten wir für ihn eine regulären Aufenthaltsbewilligung eingeholt, so dass er nun bei einer Pflegefamilie leben und Unterricht nehmen kann. Konkret bedeutet dies, dass sämtliche Kosten nun über mich laufen statt über den Staat. Deshalb haben wir einen Verein gegründet und Spenden gesammelt. 

 

Im Juni hast du einen Event veranstaltet in Frauenfeld („Solos & Sights), wo geflüchtete Künstler*innen überall in der Stadt an öffentlichen Orten auftraten. In einem Interview hast du gesagt, dass vorher niemand glaubte, dass es solche Menschen überhaupt gibt, aber du hättest lange gesucht. Wie hast du das gemacht?

Ich habe nicht alle selber gefunden. Die Idee war, dass wir die Kulturförderstellen einbeziehen, um ihnen klar zu machen, dass sie einen weissen Fleck auf der Karte haben. Wir haben immer wieder mit ihnen gesprochen und sie gefragt, was sie denn alles schon versucht hätten, um solche Künstler*innen zu finden – die eben auch Anspruch hätten auf Kulturförderung. Der klassische Fehler war, dass sie die Musiker*innen fragten, die sie bereits kannten – und diese hätten alle gesagt, sie kennen keine geflüchteten Musiker*innen. Um diese zu finden, muss man aber nicht die bestehenden Netzwerke abklappern,  aus denen sie häufig ausgeschlossen sind oder gar keinen Zugang haben, sondern da hingehen, wo sie frisch angekommen sind – ins Bundesasylzentrum zum Beispiel. Es braucht immer einen persönlichen Kontakt. Eine Ausschreibung funktioniert nicht. Schlussendlich war es eine schöne Erfahrung, dass die meisten dieser Stellen dann wunderbare Musiker*innen gefunden haben. Aber es war nicht immer einfach. Es gab schwierige, teils rassistisch gefärbte Gespräche mit solchen Fachstellen.

 

Das Schwierige ist dann wahrscheinlich, dass man geflüchtete Musiker*innen nicht stigmatisiert und auf ihre Fluchterfahrung reduzieren. Ich merke selber, dass ich noch sehr viel lernen muss. Wie ist das bei dir, hast du dich gezielt weiter- oder ausgebildet, oder einfach jahrelang Erfahrungen gesammelt?

Ich habe mich von vielen Menschen beraten lassen, und alle haben immer gesagt, du wirst das alles noch lernen – durchs Fehler machen. Fehler macht man immer, und man lernt daraus – das ist besser als von Anfang an Angst davor zu haben. Ich erlebe manchmal bei Kolleg*innen, dass sie etwas Gutes machen wollen, zum Beispiel einen Event mit Flüchtlingen, und dann wollen diese Menschen gar nicht als „Flüchtlinge“ bezeichnet werden und die Kolleg*innen sind enttäuscht. Sie hätten es doch nur gut gemeint, und sie würden in Zukunft lieber nichts mehr machen. Aber man darf nicht aufgeben. Man muss damit rechnen, dass man Fehler machen wird, und dann kann man daraus lernen und weitermachen. Ich bin auch schon voll ins Fettnäpfchen getreten. Natürlich ist das unangenehm. Aber es ist besser als gar nichts zu tun.

Das was du ansprichst – dass man Menschen nicht reduzieren soll – ist absolut zentral. Im erwähnten Projekt haben wir gezielt Menschen mit Fluchterfahrung gesucht, um sie zu unterstützen und ins Rampenlicht zu stellen – mit ihrer Musik. Es geht darum, dass man aus dem riesigen Pool von Künstler*innen nicht immer nur die Gleichen herauspickt, deshalb ist es legitim, diesen Pool auch mal zu reduzieren, um bisher ungehörte Stimmen zu fördern. Bei einer Jazzband ist es ja auch so – man kann gezielt eine Frau als Instrumentalistin suchen. Sobald diese dann da ist und mitspielt, ist es kein Thema mehr. Dann geht es idealerweise nur noch um die Musik. Aber es ist eine Gratwanderung, das ist klar.

 

Was möchtest du einer Musikerin oder einem Musiker mitgeben, der oder die gern etwas bewegen möchte? 

Das werde ich immer wieder gefragt. Manchmal stelle ich einen Kontakt her zur autonomen Schule in Zürich, die oft Leute sucht. In Kontakt treten ist immer wichtig. Man kann überall einfach mal anklopfen und fragen, im Asylzentrum, oder im Gehörlosenzentrum zum Beispiel, ob man einmal vorbeigehen kann, dann ergibt sich ganz schnell etwas. Ich glaube man sollte nie einfach denken man könne ja sowieso nichts erreichen. Am besten einfach mal anfangen und vorbeigehen, und dann entsteht etwas.